Bolivarische
Universitäten
in Venezuela: Bildung für alle als Ziel
In Venezuela bestehen seit drei Jahren bolivarische Universitäten.
Ihr Ziel ist es, höhere Bildung auch für diejenigen Menschen
zu ermöglichen, die bisher ausgeschlossen waren: Ausgegrenzt
durch ihre soziale Stellung.
In den letzten
Jahren hat Venezuela bereits einiges in Bildung investiert. So ist
der Analphabetismus durch intensive Bemühungen fast vollständig
beseitigt worden.
Langfristiges
Ziel der Regierung unter Hugo Chávez ist es, mit der Bildung
auch das Bewusstsein nicht alleine der Studierenden zu ändern.
Der Individualismus soll von Gemeinsinn und Verständnis für
die sozialen Probleme des Landes abgelöst werden.
Für alle die spanisch sprechen habe ich eine Webseite mit allen
privaten und staatlichen Universitäten
in Venezuela mit den angeboteten Kursen und Fachrichtungen.
Venezuela
- Bolivarische Bildungspolitik im 21. Jahrhundert
Christian Cwik,
Gastprofessor für Kolonialgeschichte an der Universidad Bolivariana
de Venezuela, berichtete am 6. Dezember 2007 im Rahmen der Ringvorlesung
"Ökonomisierung der Bildung" von der Umgestaltung
des venezolanischen Bildungssystems.
Christian Cwik
zeichnete die Wege nach, die unter der Regierung Chavez beschritten
werden, um mit neuen Bildungsmodellen eine universelle Transformation
der Gesellschaft in Gang zu setzen. Die spanische Invasion des 16.
Jahrhunderts und das damit einher gegangene elitäre Schulsystem
hispanophiler Prägung habe, so Cwik, auch im Bildungsbereich
indigene und afro-amerikanische Gesellschaftsgruppen ausgeschlossen.
Trotz der Unabhängigkeitskriege sei der Widerstand nicht stark
genug gewesen, um sich vom Spanischen als Hauptelement der Bildung
zu lösen. Unter Bezugnahme auf eine Rede des venezolanischen
Staatspräsidenten Hugo Chavez vom August 2006 präsentierte
Cwik eines der wichtigen Ziele der bolivarischen Regierung Regierung
Venezuelas: den Bruch mit den kolonialen Resten bürgerlicher
Bildungspolitik.
Es gebe darüber
hinaus viele andere entwicklungspolitische Herausforderungen in
Venezuela, betonte Cwik: etwa die bestehende Landflucht und die
daraus resultierenden Ausformungen von Slumgürteln an den Stadträndern,
die sich zuspitzende Peripherisierung ländlicher Gebiete und
die Benachteiligung breiter Bevölkerungsschichten. All dies
habe für die venezolanische Regierung einen hohen Stellenwert.
Die Verbindung von Bildung und Entwicklung spiele bei der Suche
nach Lösungen eine gewichtige Rolle.
"Höhere
Bildung für alle"
Seit Hugo Chavez
die politische Bühne betreten habe, berichtete Cwik, habe sich
eine Welle von Bildungsreformen über das Land ausgebreitet,
deren zugrunde liegende Parole "Höhere Bildung für
alle" diese Bestrebungen auf eine international unvergleichbar
ehrgeizige Ebene hebe.
"Munizipalisación"
oder wie die Unis gehen lernen
Um dem Leitsatz
"Höhere Bildung für alle" gerecht zu werden,
habe man in Venezuela das Konzept des "Lernens vor Ort"
entwickelt. Anstatt Menschen, die an einer Universität studieren
wollen, wie bisher üblich aus ihrem kulturellen und geographischen
Umfeld zu reißen, sollen sich die Universitäten auf den
Weg zu den StudentInnen machen. Diese so genannte "Munizipalisierung"
(mindestens eine Universität solle pro Gemeinde realisiert
werden) manifestiere sich laut Cwik aufgrund ihrer völligen
Neuorganisation der Hochschulbildung und der damit verbundenen Erschaffung
einer neuen Ausbildungsgeographie als revolutionäres Projekt.
Durch Partizipation bislang ausgeschlossener Bevölkerungsteile
solle der ganze Staat umstrukturiert werden und das Lernen scheint
hier wohl als Schlüssel auf, um das venezolanische Volk zu
befähigen, die Tür zur Mitgestaltung ihrer Heimat aufsperren
zu können.
"Misión
Sucre" und die Universidad Bolivariana de Venezuela
Zu den ins Leben
gerufenen Sonderprogrammen im Bereich der Bildung (den "Misiónes")
gehöre auch die "Misión Sucre", wobei Personen
aus dem Hochschulbildungsystem ausgewählt würden, die
Pläne für den innovativen Bildungssektor ausarbeiten,
aktivieren und betreuen sollen. Die neu gegründeten "Universidades
Bolivarianas de Venezuela (UBV) gingen Hand in Hand mit der
"Misión Sucre" und mittlerweile könne man
bereits acht solcher Einrichtungen zählen.
Um dem peripheren
Status vieler Gebiete entgegenzuwirken, bereite man aus den verschiedenen
Gemeinden solcher Gebiete kommende StudentInnen darauf vor, dass
sie mit den angeeigneten Qualifikationen als selbstständig
Unterrichtende in ihre ursprünglichen Umgebungen zurückkehren
können. Durch die Analyse, Neudefinition und Vernetzung von
Dorfstrukturen kreiere man endogenes Potenzial. Basis dieser Idee
sei der Grundsatz des sozialen Gleichgewichts, dem erst durch eine
bessere geographische Verteilung der nationalen Serviceleistungen
eine Existenzgrundlage geboten werde.
"Es handelt
sich um die Suche nach einem optimalen Territorial-Konzept",
meinte Cwik. Ein Fokus liege dabei auf der Selbsterschaffung und
-ermächtigung einer verantwortungsfähigen Allgemeinheit,
die demnach aus eigener Kraft auf den Krücken eines stabilen
Bildungssystems mit der globalisierten Welt mitlaufen lernen soll.
Denn erst im Kontext einer gleichmäßig gebildeten Gesellschaft
könne partizipative Demokratie effektiv funktionieren und idealerweise
in eine "protagonistische Demokratie" münden.
Sozialismus
des 21. Jahrhunderts
Christian Cwik
erläuterte, dass hinter der akademischen Ausbildung größtmöglicher
Bevölkerungsteile auch der Wunsch nach Überwindung kapitalistischer
Denkstrukturen stecke. Sie seien es, die der Akzeptanz von Ungleichheit
und Ungerechtigkeit erst Raum geboten hätten.
Der venezolanische
Staat und seine AkteurInnen würden eine ihrer Aufgaben in der
Entfesselung unterdrückter Kräftereservoirs sehen, weshalb
ein Aktionsplan erstellt worden sei, dessen Grundbedingungen fünf
Bereiche darstellten: politisches, ökonomisches, soziales,
territoriales und internationales Gleichgewicht.
In Abstimmung
mit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verantwortung
einer Gemeinde konstruiere die "Misión Sucre" einen
von jeglichen Zugangsbeschränkungen befreiten "espacio
educativo" (Bildungsraum). Dieser solle eine "Aldea Universitaria"
hervorbringen eine permanente regionale Bildungseinrichtung,
die sich unmittelbar mit lokalen Gegebenheiten auseinandersetze
und in Kooperation mit Kommunen, Firmen, staatlichen sowie nicht-staatlichen
Organisationen arbeite. Diese schulischen Einheiten befänden
sich direkt in den Gemeinden und würden sich dort bereits vorhandener
infrastruktureller Einrichtungen bedienen. Man könne sich also
"mobile Klassenzimmer" vorstellen, wie Cwik sie bezeichnete,
die zu flexiblen Zeiten Kindergärten, Sportplätze, Kulturvereine
und andere Institutionen nutzen würden, um auf den fahrenden
Wissenszug aufzuspringen.
Bildung
In Venezuela gibt es sowohl ein staatliches als auch ein privates
Schul- und Hochschulsystem. Im lateinamerikanischen Vergleich ist
das Hochschulsystem sehr gut, jedoch sind noch deutliche Defizite
im staatlichen Schulsystem zu erkennen. Die Schulpflicht beträgt
neun Jahre, allerdings erfüllten diese 1998 nur etwa 60 % der
schulpflichtigen Kinder. Die Analphabetenquote liegt unter 10 %.
Staatliches Bildungssystem
Während das private Schulsystem in Venezuela kostenpflichtig
ist, erweiterte der Staat mit dem bolivarischen Schulsystem seit
2003 das kostenlose staatliche Schulsystem, welches aber noch Defizite
erkennen lässt. Das bolivarische Bildungssystem richtet sich
sowohl an Erwachsene als auch an Schulpflichtige. Die Erwachsenenbildungsprogramme
sind in so genannten Misiónes organisiert. Sie sind nach
dem Generalstreik im Frühjahr 2003 angelaufen und werden dezentral
angeboten:
Misión
Robinson I ist ein Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene,
an dem bis Ende 2005 fast 1,5 Millionen Personen teilgenommen haben
und bietet Kurse zur Erlangung eines Primarschulabschlusses (6.
Klasse) an. Ergänzend dazu gibt es noch die Misión Robinson
II. An diesen Kursen haben im Jahr 2005 600.000 Personen teilgenommen.
Misión Ribas ist ein Erwachsenenbildungsprogramm zur Erlangung
eines Sekundarschulabschlusses (Abschluss nach der 11. Klasse).
Darüber hinaus gibt es noch das Programm Misión Sucre.
2003 wurde die
Universidad Bolivariana de Venezuela gegründet, an der im Gegensatz
zur nationalen Uni alle Interessenten mit Sekundarschulabschluss
studieren können. An dieser Uni existieren zur Zeit 11 entwicklungstechnisch
relevante Studiengänge (zum Beispiel Gemeindemedizin, Sozialarbeit,
Pädagogik, Jura). Die Ausbildung besteht paritätisch aus
universitären und praktischen Anteilen. Da die bolivarianische
Uni nicht alle Interessenten aufnehmen kann, wurden dezentral Studierzirkel
eingerichtet, die von Dozenten, Studenten höherer Semester
sowie über Fernkurs versorgt werden. Die dezentrale Hochschulausbildung
ist der Inhalt der Misión Sucre.
In den Armenvierteln
werden bolivarianische Vorschulen, Grundschulen und Sekundarschulen
errichtet. Die Schulen sind perspektivisch als Ganztagsschulen konzipiert.
An der Konzeption der Schulen sollen alle Beschäftigten (Lehrer,
Psychologen und Handwerker) beteiligt werden. Die Schulen sollen
Schulkleidung, 2 Mahlzeiten am Tag und die medizinische Versorgung
der Kinder bereitstellen. Lerninhalte sind nicht nur die gewöhnlichen
Schulfächer, sondern auch die Bewältigung des Alltags.
Im Jahr 2003
wurden 2800 neue Schulen gegründet, in denen die Konzeption
teilweise schon verwirklicht ist. Laut der NGO Organisation for
the Defence of the Right to Education versuchen Schuldirektoren
im Bundesstaat Anzoátegui mit schlechter Sicherheitslage
jedoch illegal, Schulgebühren für den Unterricht zu verlangen
und schlechtere Schulqualität anzubieten als in offiziellen
Erklärungen.
Musikpädagogik El Sistema
Seit 1975 hat der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler und
Musiker José Antonio Abreu ein landesweites Netz von Jugendorchestern
(El Sistema) aufgebaut, das inzwischen über 300.000 Kindern
und Jugendlichen kostenlos Zugang zu Musikunterricht und zu einem
eigenen Instrument geschaffen hat und zu höchsten musikalischen
Leistungen wie unter anderem der international renommierten Sinfónica
de la Juventud Venezolana Simón Bolívar geführt
hat. Die musikpädagogische Arbeit von El Sistema hilft den
Kreislauf von Armut und Gewalt zu durchbrechen. 2009 entstand der
Dokumentarfilm El Sistema von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier.
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